China begegnen
Aus den Scherben der modernen Wissenschaft muss eine neue Welt errichtet werden; und Ost und West müssen sie gemeinsam schaffen.
Es waren visionäre Kosmopoliten wie Lin Yutang und Richard Wilhelm, die schon vor hundert Jahren ihre Faszination für die chinesische Kultur auch westlichen Interessierten vermitteln konnten. Die Auseinandersetzung mit chinesischem Gedankengut, den unterschiedlichen Herangehensweisen und Lösungsversuchen ist angesichts des rasanten Aufstiegs Chinas als wirtschaftliche und politische Großmacht wichtiger denn je.
China agiert als riesiges Testlabor der Welt. Das große unternehmerische Potenzial von Chinas Bevölkerung wird nun in Richtung Industrie 4.0 gelenkt und dabei ist es China gelungen, mit Alibaba, WeChat und Baidu echte Gegenspieler zu Amazon, Facebook und Google zu schaffen. Und es sind keine Kopien der US-Giganten, sondern in vielen Bereichen schon deutlich weiterentwickelt, d.h. sie bieten mehr Services an und sind aus dem chinesischen Alltag nicht wegzudenken. Das von Xi Jinping 2013 ausgerufene Mega-Projekt der „neuen Seidenstraße“ (Belt Road Initiative) kann in seiner wirtschafts- und geopolitischen Dimension durchaus mit dem Marshall-Plan verglichen werden und löst dementsprechend intensive Diskussionen und Erwartungen in sämtlichen Weltregionen aus.
Ob es einem gefällt oder nicht: China ist ein zu wichtiger Faktor für die Entwicklung der Welt geworden, als es zu ignorieren oder die Wahrnehmung auf Klischees zu reduzieren. Die Beschäftigung mit China ist jedenfalls lohnend: ungewöhnliche Perspektiven, neue Denkweisen und eine faszinierende Kultur erwarten jeden, der sich auf dieses Abenteuer einlässt.
Vordenker und Vorbilder
Lin Yutang (1895-1976) war ein unermüdlicher Schreiber und Übersetzer. Seine Zeit war von Turbulenzen und Kriegen geprägt. Dem hielt er seinen Lesern das humanistische Ideal aus Chinas Literatur entgegen, getrieben von dem Bemühen, eine Brücke der Verständigung, des Verstehens zwischen der westlichen und der östlichen Welt zu etablieren.
Ich denke, das Wort „Verständnis“ ist ein großes Wort. Es bestätigt die Verwandtschaft aller Menschen; mit all ihrer Liebe zu Wahrheit und Schönheit, und mit all ihren Torheiten und Schwächen.
Dank seiner Sprachbegabung machte er die Klassiker der chinesischen Literatur einem westlichen Publikum zugänglich und ließ in Kommentaren seine eigenen Beobachtungen aus seinen langjährigen Aufenthalten in den USA, Frankreich und Deutschland einfließen.
Lin Yutangs europäischer Seelenverwandter war Richard Wilhelm (1873-1930), Theologe und Lehrer in der Stadt Qingdao an der Ostküste Chinas. Wilhelms Übersetzungen der Texte von Konfuzius, Laotse und des „I Ging“ (Buch der Wandlungen) gelten bis heute als exemplarisch. Auch Wilhelm schrieb gegen die Wirren seiner Zeit an: Bereits ein Jahr nach seiner Ankunft in China brach 1900 der Boxeraufstand aus; während des japanisch-chinesischen Kriegs und unter japanischer Besetzung konnte er seine Arbeit in der Schule nur unter Schwierigkeiten fortsetzen.
Unsere Zeit hat etwas Furchtbares. Alles Ehrwürdige, Festgefügte beginnt zu weichen und zu stürzen. Aber auch wenn das Sterbliche an Konfuzius in dieser neuen Welt sich auflösen wird: Das Ewige an ihm, die große Wahrheit von der Harmonie zwischen Natur und Kultur, wird bleiben und wird der neuen Weltanschauung und Menschengestaltung einen starken Antrieb geben.